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"Collage Tal"

Subsistente Dörfer

Über das Neudenken in der Landwirtschaft – eine Vision mit Einfluss auf die Raumplanung.
Beiträge von: Ana Bela Amstad, Dipl. Architektin MA FHZ, Thomas Furrer, Raumplaner und Vorsteher Amt für Raumentwicklung Nidwalden.

Ana Bela Amstad, Dipl. Architektin MA FHZ:

Der Druck auf die Landschaft durch Zersiedlung und Verdichtung wird im­mer grösser. Ein sorgfältiger Umgang mit dem Lebensraum und innovati­ve Perspektiven der schwindenden Identität sind gesucht und das vernetzte Denken und die Partizipation, nicht nur in der Wirtschaft und Mobilität, son­dern auch zwischen Mensch, Natur und Umwelt wird unabdingbar. Im Span­nungsfeld von Siedlungsraum und Landwirtschaft präsentierten die Archi­tektin Ana Bela Amstad mit ihrer Masterarbeit und der Raumplaner Thomas Furrer mit seiner Sichtweise am 16. September 2021 den über dreissig Interessierten aus Politik, Verwaltung, Landwirtschaft, Forschung und Planern in der Ermitage Beckenried Lichtblicke in der Raumplanung.

Am Anfang steht eine Vielzahl von Fragen, mit denen ich mich im Rahmen der freien Masterthesis (Master Architektur, HSLU Technik & Architektur, In­stitut für Architektur) auseinandersetzten konnte. In der Architektur spricht man oft vom Städtebau. Was aber geschieht mit dem Dorf? Was geschieht mit der Landschaft? Und wie kann im Dorf mit Identität (weiter-)gebaut wer­den? Wie kann Kulturgut in Form von Bauten und Landschaft trotz ändern­den Anforderungen erhalten bleiben?

Um mögliche Antworten zu finden, habe ich mich mit dem Neudenken der Landwirtschaft und deren Einfluss auf die gebaute Identität im Dorf befasst. Unter dem Leitgedanken des Teilens und dem Prinzip möglichst geschlos­sener Kreisläufe wird in der Thesis das Szenario der «Neuen Korporation Beckenried» aufgestellt, die als Gemeinschaft das Ziel eines nachhaltigen Le­bensstils verfolgt.

Durch das Neudenken der Landwirtschaft als Korporation verschiebt sich die Verantwortung vom Einzelnen auf viele. Spezifisches Kulturgut kann in Form von Bauten und Landschaft erhalten und weiterentwickelt, aber auch in neu­ere Formen ausgearbeitet werden – durch das Agieren in möglichst lokalen Kreisläufen. Hier spielen die Natur und das Klima eine zentrale Rolle. Wir reagieren auf diese Gegebenheiten, um einen bestmöglichen Lebensraum zu gestalten. Der Grünraum soll nicht als Restfläche zwischen Gebäuden ver­standen werden, sondern die Siedlung und die Siedler als Teil der Landschaft und der Natur.

Das Modell, das in dieser Arbeit erarbeitet wurde, ist eine Hypothese, die auf unterschiedlichen Massstabsebenen weitergedacht werden kann und muss. Generelle Grundsätze der Vision, wie die Agrarökologie, die solidarische Landwirtschaft und die Digitalisierung in der Landwirtschaft, sind weltweit anwendbar. Deren Anwendung und Einfluss auf die Nutzung sind in Abhän­gigkeit der regionalen Natur zu sehen. Dadurch bleiben nach wie vor regio­nale Eigenheiten in Flora und Fauna bestehen.

Die Architektur befasst sich dann mit ortsspezifischen Fragen und Gegeben­heiten. Sie steht in einem wechselseitigen Austausch mit Natur und Kultur, ist zugleich aber auch Teil davon. Sie reflektiert vergangene sowie aktuelle Lebensformen, kann aber auch Platz schaffen für neue Entwicklungen und Wandel.

 

Thomas Furrer, Raumplaner und Vorsteher Amt für Raumentwicklung Nidwalden:

Subsistente Dörfer zeichnen das Bild der Selbsterhaltung und der Korpora­tionen, das heisst: gemeinsam agieren, wirtschaften, gestalten und sich ent­sprechend stark identifizieren mit dem Zuhause, dem Betrieb, dem Dorf, der Landschaft und den produzierten Produkten. Die subsistente Landwirtschaft würde den Dörfern und den Menschen guttun und Land frei werden lassen. Denn unsere Landwirtschaft produziert über den Eigenbedarf hinaus. Für den täglichen Bedarf an Lebensmitteln gibt es den Hof in der Nachbarschaft. Die Kundinnen und Konsumenten sind bereit, den wahren und fairen Preis für eine tiergerechte und biologische Produktion zu zahlen. Die Kreislauf­wirtschaft ist das Mass der Dinge. Alle sind beteiligt und alle gewinnen.

Raumplanerisch ist dieses Szenario nicht mehr die Grundlage unserer Zonen­pläne, Dorfstrukturen und Landschaften. Doch, vielleicht sind wir gar nicht so weit weg von subsistenten Lebensentwürfen und Lebensräumen, wie wir meinen. Oder anders gesagt: Der Weg dorthin müsste gar nicht so weit, stei­nig und hügelig sein. Was wäre zu tun?

Subsistenz gehört in die Leitbilder der Dörfer und des Kantons. Aus Über­zeugung: So wie bisher wollen wir nicht weitermachen. Die Landwirtschaft nachhaltig stärken heisst wieder in Korporationen zu arbeiten. Gemeinsam wirtschaften, Geräte und Maschinen teilen, digital farming nutzen, tüfteln und probieren, werben und kommunizieren, die Vorzüge des Lokalen und der Nähe ausspielen, die Dorfbewohner sind Kunden und Konsumentinnen und das Kapital. Die Korporationen sind zugleich Pulsschlag und Oasen der Dörfer. Dazu braucht es neue Siedlungs- und Landschaftsbilder, ein Umbau der Raumstrukturen, weg von den Mononutzungen, Einzelhöfe verschwin­den oder werden zu Korporationshöfen erweitert und ergänzt. Vielfalt ist Trumpf, Mehrgenerationenwohnen der Standard. Neue Baugesetze, Richtplä­ne und Zonenpläne definieren das Wünschbare und Machbare. Landwirt­schaftsgesetze und das bäuerliche Bodenrecht postulieren die Subsistenz mit Korporationen. Aber klar, weiterhin darf alleine bleiben, wer will, das Leben und die Musik spielt aber anderswo.

Fragt sich: Wer macht die ersten Schritte Richtung Subsistenz? Die Landwirt­schaft? Die Politik? Die Raumplanung? Die Menschen? Die Konsumenten? Vermutlich ist es wie meistens: Im Kleinen beginnt, was gross werden will.